EN

Hannes Meyer – Persönlichkeit und Farbe

Fünf. Fünf Fragezeichen benötigte Meyer, um den Satz »kunst oder leben?????«zu beenden. Es braucht aber nicht diesen Satz, den er in einer Bauhausschrift aus dem Jahr 1928 äußerte, um den Eindruck zu erhalten, dass Meyer sich zu Fragen der Gestaltung in einem komplexen Verhältnis befand. Als ich letztes Jahr die Bundesschule des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund in Bernau bei Berlin und die Siedlung Freidorf in Basel besuchte, wurde mir unübersehbar vorgeführt, wie innerhalb von Meyers Werk die Bedeutung des Begriffs Kunst nicht selbstverständlich war.Bemerkenswert war für mich zu sehen, mit welcher Radikalität sich Meyer zum Begriff der Kunst positionierte — eine Radikalität, die auch herkömmliche Vorstellungen und Vorurteile über die architektonische Moderne infrage stellen vermag. Der Vergleich zwischen dem Freidorf und Bernau veranschaulicht nicht nur Meyers Entwicklung von einem reduzierten klassischen Ausdruck hin zur architektonischen Moderne — eine Entwicklung die sich innerhalb von weniger als 10 bewegten Jahren vollzog. Allein schon in der Frage der Farbgestaltung spielte sich etwas Bemerkenswertes zwischen diesen beiden Entwürfen ab. Der Verlust der Farbfläche am Gebäude zeugt von einem radikalen Rückzug aus der Gestaltung, auf den sich Meyer zwischen diesen beiden Projekten einließ. Während im Freidorf noch eine »Symphonie in Rot«2 sich über die 150 Gebäude der Siedlung ausdehnte, macht sich in Bernau so etwas wie ein Verzicht auf die Farbfläche bemerkbar. Mit den Fassaden aus gelbem Klinker und den unverkleideten Betonelementen war zugleich etwas verloren und etwas gewonnen. Verloren war die Farbe als Ausdruck einer bewussten gestalterischen Entscheidung. Gewonnen war aber eben dadurch gleichzeitig in aller Zweideutigkeit auch ein neuer Gegenstand: die neue Welt der industriellen Produktion; die »neuen Baustoffe«, die Meyer 1926 mit seiner Zuwendung zur architektonischen Moderne bereits dem Worte nach begrüßt hatte.

Hannes Meyer: Freidorf, 1919-1921

Es war diese »neue Welt«3, wie Meyer sie nannte, die die Spontaneität in der Gestaltung herausforderte. Was war die Bedeutung der Farboberfläche als Ausdruck von künstlerischer Individualität vor dem Hintergrund einer Massenproduktion, die alles Originelle infrage stellte? Meyers Funktionalismus, so selbstbewusst wie er auftrat, wies in dieser Sache dennoch auf eine offene Frage hin. Im Rahmen seiner Reflexion über eine Massenkultur, die den individuellen Ausdruck hinter sich zu lassen schien, arbeitete sich Meyer am Begriff Kunst ab; ein Begriff der, gemessen am Trubel der Zwanzigerjahre augenscheinlich an Selbstverständlichkeit eingebüßt hatte. Ich zitiere aus Meyers Schrift »Die neue Welt«, welche 1926 erschienen ist, also etwa zwei Jahre vor dem Entwurf der Bundesschule in Bernau:

»Jedes Zeitalter verlangt seine eigene Form. Unsere Aufgabe ist es, unsere neue Welt mit unseren heutigen Mitteln neu zu gestalten. Jedoch die Last unseres Wissens um das Vergangene drückt, und unsere hohe Schulung birgt die Tragik der Hemmung auf unseren neuen Wegen. Die rückhaltlose Bejahung der Jetztzeit führt zur rücksichtslosen Verleugnung der Vergangenheit. Die alten Einrichtungen der Alten veralten, die Gymnasien und die Akademien. Die Stadttheater und die Museen veröden. Die nervöse Ratlosigkeit des Kunstgewerbes ist sprichwörtlich. Unbelastet von klassischen Allüren, künstlerischer Begriffsverwirrung oder kunstgewerblichem Einschlag erstehen an deren Stelle die Zeugen einer neuen Zeit: Muster-messe, Getreidesilo, Music-hall, Flugplatz, Büro-Stuhl, Standardware. Alle diese Dinge sind ein Produkt der Formel: Funktion mal Oekonomie. Sie sind keine Kunstwerke. Kunst ist Komposition, Zweck ist Funktion. Die Idee der Komposition eines Seehafens erscheint uns unsinnig, jedoch die Komposition eines Stadtplanes, eines Wohnhauses …?? Bauen ist ein technischer, kein ästhetischer Prozess, und der zweckmässigen Funktion eines Hauses widerspricht die künstlerische Komposition. Idealerweise und elementar gestaltet, wird unser Wohnhaus eine Wohnmaschinerie.«4

Kunst wurde somit, in der Interpretation Meyers, zum Sinnbild für eine Individualität, die im Zeitalter der Massenproduktion verdächtig geworden war. Aufgrund der Unpersönlichkeit dieser »neuen Welt« der industriellen Produktion fiel auch die Berechtigung für die Färbung der Oberfläche des Baus. Die Farboberfläche erschien nun als etwas, was Meyer in die fraglich gewordene Sache verlagern konnte, die »Kunst« geworden war. »Statt gefärbtes Material — die Materialfarbe selber«5 hieß die Losung Meyers, zu der er wiederholt zurückkehrte. Seinen Worten nach sollte die Materialfarbe »automatisch« aus dem »erstehen«, was Meyer »reine Konstruktion« nannte. 

»Reine Konstruktion«, das bezeugt das Experiment der Co-op Vitrine, bedeutet in erster Linie eine scheinbar unvoreingenommene Anordnung der standardisierten Ware, ein Rückzug aus der Gestaltung, der die Erscheinungsweise des aus der Sphäre der Industrie entnommenen »Elements« unbearbeitet lassen soll. Die Co-op Vitrine, die etwa 1924 entstand, ist ein eindrückliches Beispiel für Meyers Suche nach seinem Zugang zur neuen, modernen Formensprache. Sie verdeutlicht im Kleinen, was im weiteren Verlauf auch für den Bau gelten sollte. Die unscheinbare Aufgabe, die hinter der Co-op Vitrine stand, Lebensmittel der genossenschaftlichen Produktion auszustellen, wurde in der Hand Meyers zu einer typischen Schöpfung der Avantgarde. Avantgardistisch ist die Co-op Vitrine durch die Distanz zur Konvention. Ganz im Sinne der allgegenwärtigen Infragestellung des Kunstwerks in den Zwanzigerjahren baute Meyer eine Distanz zu dem auf, was sonst Sache des ästhetischen Urteils war. Die Aufgabe, einheitliche Verpackungen in einer Vitrine anzuordnen, wurde in Wirklichkeit zur Chance, Äußerungen künstlerischer Individualität zu überwinden. Die Waren in der Co-op Vitrine sprachen für sich. Nichts wurde hinzugefügt, es wurde nur angeordnet. Das massenhaft Produzierte, dem Anschein nach eher ein Ergebnis von Standardisierung als von künstlerischer Einbildungskraft, entband somit Meyer von der Pflicht, Persönlichkeit in das Material einzuarbeiten. »Das sicherste Kennzeichen wahrer Gemeinschaft ist die Befriedigung gleicher Bedürfnisse mit gleichen Mitteln. Das Ergebnis solcher Kollektivforderung ist das Standardprodukt.«6 So resümierte Meyer es in »Die neue Welt«. Das Verständnis von Materialität, das sich buchstäblich in der Co-op Vitrine zeigte, liefert somit eine Erklärung für den Verlust der Farbgestaltung. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der Meyer die Ware unvermittelt als »Element« seiner Konstruktion behandelte, verwies er auf die »Materialfarbe« der »neuen Baustoffe«. Der Verlust der Farbgestaltung, der sich zwischen dem Freidorf und Bernau abspielte, verwies somit zur Frage nach der Bedeutung der Warenproduktion. Zur Verhandlung stand der Bezug der Gestaltung zu dem Material, das die Industrie bereitstellte. Meyer entschied sich, inmitten einer Welt der Massenproduktion für eine solche Absage an das Individuelle, welche auch die Frage der Farbe des Gebäudes betraf. Materialität war nicht mehr Resultat einer bewussten Entscheidung in der Gestaltung, sondern wurde in den vermeintlich unpersönlichen Produktionsprozesses verlagert:

»Die Neuzeit stellt unserm neuen Hausbau neue Baustoffe zur Verfügung: Aluminium und Duraluminium als Platte, Stab und Sprosse, Euböolith, Ruberoid, Torfoleum, Eternit, Rollglas, Triplexplatten, Stahlbeton, Glasbausteine, Fayence, Stahlgerippe, Betonrahmenplatten, -säulen, Trolith, Galalith, Cellon, Goudron, Ripolin, Indanthrenfarben. Diese Bauelemente organisieren wir, dem Zweck und ökonomischen Grundsätzen entsprechend, zu einer konstruktiven Einheit. Architektur als Weiterbildung der Tradition und als Affektleistung hat aufgehört. Einzelform und Gebäudekörper, Materialfarbe und Oberflächenstruktur erstehen automatisch, und diese funktionelle Auffassung des Bauens jeder Art führt zur reinen Konstruktion.«7

Bundesschule des ADGB in Bernau

Nicht immer arbeitete Meyer das Individuelle und das Gemeinschaftliche zu solchen Extremen heraus. Das in den Jahren 1919 bis 1921 errichtete Freidorf bezeugte im Vergleich zu Meyers späterem Verständnis von Materialität noch eine relative Zwanglosigkeit. Allein schon die Möglichkeit zur Farbkomposition steht im Gegensatz zu jener Zerrissenheit, mit der er später Fragen der Gestaltung behandeln musste. Umso bemerkenswerter ist es, dass die Fragestellung, die hinter dem Freidorf stand die gleiche war — nämlich: Was macht das Material echt? Den Entwurf des Freidorfs beschrieb Meyer dementsprechend als »Ein Ringen um Wahrheit«. Eine Wahrheit, die sich auch in der Farbe zeigen sollte. 

»Kein farbiges Betonen einzelner Bauteile, kein Kontrast zwischen Dach und Hauswand, kein Hervorheben der Materialunterschiede«8, so beschrieb Meyer seinen Gegenentwurf zum stilistischen Überfluss des 19. Jahrhunderts. Insbesondere die soziale Bedeutung des Freidorfs als Genossenschaftsprojekt trieb Meyer zu einer Ablehnung des Ornamentalen. Das Freidorf stand ganz im Zeichen eines Erneuerungswillens, der in den gesellschaftlichen Umbrüchen des frühen 20. Jahrhunderts um sich griff. Befeuert von den sozialreformerischen Ideen, die er mit der für die Siedlung verantwortlichen Kooperative teilte, wandte sich Meyer betont praktischen Fragen zu. Der spätere Funktionalismus Meyers kündigte sich an. Jedoch konnte an dieser Stelle noch das Material noch unvermittelt einer »künstlerischen Ordnung«9 unterworfen werden. Für die standardisierte Form der Bauteile, die sogenannte »Freidorfnorm«, suchte Meyer nicht das Vorbild der Industrie auf, sondern Palladio. Auf Palladio, den er in seiner Jugend ausgiebig studierte, führte Meyer die Proportionen der Siedlungsgebäude zurück. Ähnlich unproblematisch wie der Bezug zu den handwerklichen Tradition, die in dieser »Freidorfnorm« zur Anwendung kam, war also der Bezug zur architektonischen Tradition, in er sich begab. Mit einem ähnlichen Ansatz nahm Mayer sich der Farbgestaltung an. Die Reduktion auf die Einfarbigkeit unterstand der Forderung nach der »Echtheit des Materials« — im Sinne eines Verzichts auf das, was das Notwendige übersteigt. Gleichzeitig gelang es Meyer noch diese Reduktion kompositorisch zu verarbeiten. Die Regeln der Ästhetik und die Besinnung auf das Praktische standen, wie die Farbe des Freidorfs festhielt, zu diesem Zeitpunkt, in keinem widersprüchlichen Verhältnis zueinander. Ähnlich unproblematisch wie das Handwerk als Grundlage für den Siedlungsbau war der gestalterische Beitrag Meyers im Freidorf

Genossenschaftshaus im Freidorf

Zurück zum Beispiel Bernau. Wie zu sehen war, handelte es sich insbesondere auch um ein gewandeltes Verständnis von Produktion, das Meyer zu einem neuen Umgang mit der Farbe brachte. »Die Materialfarbe selber« — das bedeutete einen Rückzug aus der Gestaltung, einen Zweifel am Wert des Individuellen in der Massenkultur, eine Unsicherheit über die Bedeutung des ästhetischen Urteils inmitten einer unpersönlichen Industrie. Es ist daher nicht überraschend, dass Meyer am Bauhaus diese Auseinandersetzungen fortführen sollte — dem Bauhaus, in dessen Zusammenhang die Bundesschule in Bernau im Detail ausgearbeitet wurde. »Kunst und Technik – eine Einheit« — die Bedeutung dieses Mottos, das Walter Gropius ausgerufen hatte, war bereits vor der Ankunft Meyers 1927 unsicher geworden.10 Das neue Bauhaus Dessau stand ganz unter dem Zeichen praktischer Erprobung. Der Erfolg der Institution, sich zur Gesellschaft zu öffnen, war eben für dieses Motto die Probe aufs Exempel. Was veränderte sich mit den ersten Bauhausprodukten für den Massenbedarf? Vor welche Aufgaben stellte der Bau von »Volkswohnungen« das Bauhaus? Wie war der künstlerische Vorkurs mit der Betätigung an der industriellen Produktion zusammenzubringen? War Kunst und Technik wirklich eine Einheit?

Ab 1928 musste sich Meyer diesen Fragen als Bauhausdirektor stellen. Als Beispiel für sein Wirken als Bauhausdirektor liefert eben auch die im gleichen Jahr entworfene Bundesschule in Bernau einen Eindruck von Meyers Position zu diesen Fragen. Seine Ablehnung des Begriffs Kunst, seine Ablehnung von allem, was als eine Äußerung von Individualität aufgefasst werden könnte, bestimmte auch seine Position in der Debatte über die Zukunft der Bauhauslehre.

»wir suchen
keinen bauhausstil und keine bauhausmode.
keine modisch-flache flächenornamentik
horizontal-vertikal geteilt und neoplastisch aufgepäppelt
wir suchen keine geometrischen oder stereometrischen gebilde,
lebensfremd und funktionsfeindlich.«11

So schrieb Meyer 1929 für die Bauhauszeitschrift. Die Abwesenheit der Farbgestaltung in Bernau war somit ein Zeugnis für Meyers Konflikt mit dem Bauhaus selbst, so paradox es sich auch anhören mag. »Als Bauhausleiter bekämpfte ich den Bauhausstil« — Meyer bekannte sich offen zur »tragikomischen Situation«, in die er sich begab. Das Verständnis von Materialität, zu dem er durch seine Zuwendung zur architektonischen Moderne erlangt hatte, stand in der Tat jedem etablierten modernistischen Stil entgegen. Nicht nur einen weißen Modernismus lehnte er brüsk ab: »wir vermeiden reinweissen hausanstrich: der hauskörper ist bei uns ein akkumulator der sonnenwärme. . .«12 Darüber hinaus traf Meyers Urteil die Übertragung der Formensprache der abstrakten Malerei auf den Bau besonders hart. Diese fasste er eben ablehnend als eine neue Ornamentik auf. Es war nochmals der Konflikt zwischen dem Individuellen und dem Kollektiven, das sich in dieser Ablehnung des Modernismus als Stil reproduzierte. »Das Kleefeld junger Bauhauskünstler, gezüchtet vom wundersamsten Maler-Individualisten, wird brach liegen in unserer Epoche grösster sozialer Umschichtung und Lebensnot.«13 — gemeint waren »Maler-Individualisten« wie Wassily Kandinsky, der bereits vor der Ankunft Meyers unter anderem für ein Farbseminar zuständig war. Unter die abzulehnende Kunst fiel damit das Etablierte, das Bekanntgewordene, das Stilhafte am Bauhaus. Hier trafen zwei Auseinandersetzungen aufeinander. Einerseits der persönliche Weg Meyers zu Moderne, der ihn bereits vor seiner Zeit am Bauhaus zu einer radikalen Verhältnis zum Begriff Kunst setzte — andererseits ein ungelöster Konflikt über den Gehalt dieses Begriffs der Kunst am Bauhaus selbst, der in der Dessauer Episode unausweichlich geworden war, wie es Philipp Oswalt in seiner Einleitung zur Sammelpublikation Hannes Meyers neue Bauhauslehre nahelegte.14 Im Entwurf der Bundesschule in Bernau fehlte gewissermaßen das, was Meyer als ein Mangel an Modernität auffasste: der malerische Umgang mit der Gebäudeoberfläche.

»Betriebsgang« in der Bundesschule des ADGB in Bernau

Es ist schwer, was diesen Konflikt am Bauhaus angeht, zu einem Fazit zu gelangen. Das liegt jedoch nicht nur am politisch herbeigeführten Ende des Bauhauses in den Dreißigerjahren. Der Streit um die Zukunft der Bauhauslehre eskalierte bereits unter dem Direktorium Meyers. Kandinsky, wie auch Josef Albers und Ludwig Grote sahen sich von Meyers Plänen in ihrer Tätigkeit bedroht und erwirkten bei der Stadt Dessau im August 1930 seine Entlassung.15 Ihre kontroverse Behauptung, Meyer hätte die Lehre als Kommunist politisieren wollen, lässt sich bestreiten. Meyer unterband explizit die parteipolitische Instrumentalisierung des Bauhauses und war trotz Sympathien für den Sowjetmarxismus noch in ihm ungefestigt. 

Mit diesem Vorfall wurde jedoch die Auseinandersetzung über den Begriff der Kunst in Meyers Werk, dem Vorwurf nach, zum Politikum. Darüber hinaus gab er, mit der Ausreise in die Sowjetunion Stalins, die prompt auf die Entlassung folgte, sich selbst einer umfassenden Politisierung der Frage der Kunst hin. In dem planwirtschaftlichen Aufbau der Industrie im ersten Fünfjahresplan (1929-1933) lockte die wiederentdeckte Ideologie des Proletkults mit der Behauptung der Möglichkeit einer neuen Kultur aus den Massen, für die Massen. Das Ende der Sowjetmoderne im »nationalen Stil« des sozialistischen Realismus legte jedoch im weiteren Verlauf der Dreißigerjahre die Fragwürdigkeit dieses Versuchs offen. Ebenso Fragwürdig war das Bekenntnis Meyers zur Politik des Stalinismus, das auch nach seiner Rückkehr aus der Sowjetunion 1936 weiter bestand.

Was war nun der Wert des Individuellen, das Meyer stets problematisierte? Die politische Reaktion der Dreißigerjahre, der Meyer seine Architektur unterstellte, unterbrach die Auseinandersetzung damit und gab gleichzeitig vor sie gelöst zu haben. Der Konflikt zwischen Individuum und Kollektiv, wurde im Stalinismus auf brutale Weise konkret, zwischen der gleichzeitigen Behauptung einer befreiten Gesellschaft und dem allgegenwärtigen politischen Terror. Die Frage der politischen Bedeutung von Meyers Architektur ließe sich konkret anhand seines politischen Bekenntnisse nachzeichnen. Jedoch liegt wohl darüber hinaus ein politischer Gehalt in der Frage über den Wert des Individuellen in einer Zeit sozialer Umbrüche, der sich durch Meyers gesamtes Werk zieht. Dabei eröffnet sich durch den Wandel des Umgangs mit den Kunstbegriff ein ungeheurer Zusammenhang; zwischen seinen Anfängen im Freidorf, seiner Auseinandersetzung mit der Moderne in Basel und Dessau und dem Versuch einer sozialistischen Architektur in der Sowjetunion. 

Kunst oder Leben? Die vermeintlich unscheinbare Frage der Farbe am Bau wurde bei Meyer zu einer spannungsreichen Auseinandersetzung mit dem Wert des individuellen Ausdrucks in einer Zeit, die sich mit den Phänomenen des Massenlebens auseinandersetzen musste. Meyer vermied stets den Eindruck einer abgeschlossenen Moderne. Die Absage an eine Farbe als ein Zeugnis von Persönlichkeit war somit Zeichen einer Suche nach einem Kollektiv, dessen Bedeutung jedoch in politischer Hinsicht zwischen der Zuversicht der Zwanzigerjahre und der Tragik der Dreißigerjahre unsicher blieb. Was bleibt von Meyers Moderne angesichts dieses zerrütteten und politisch umkämpften Ausgangs? Kann sein radikaler Umgang mit dem Begriff der Kunst trotzdem unser Verständnis darüber herausfordern, was es bedeutet, modern zu sein?

1 Meyer, Hannes, 1928, zit. n. Schnaidt, Claude, Hannes Meyer. Bauten, Projekte und Schriften (Teufen: Niggli, 1965), S. 94.

2 Meyer, H., zit. n. Schnaidt, Claude, ebd., S. 10.

3 Meyer, H., 1926, zit. n. Schnaidt, Claude, ebd., S. 90.

4 Ebd., S. 92.

5 Ebd., S. 94.

6 Ebd., S. 92.

7 Ebd.

8 Meyer, H., zit. n. Schnaidt, Claude, ebd., S. 10.

9 Meyer, H., zit. n. Schnaidt, Claude, ebd., S. 20.

10 Vgl. Oswalt, Philipp, Hannes Meyers neue Bauhauslehre: Von Dessau bis Mexiko (Basel: Birkhäuser, 2019), S. 9-10.

11 Meyer, Hannes, 1929, zit. n. Schnaidt, Claude, Hannes Meyer, S. 98.

12 Meyer, Hannes, 1928, zit. n. Schnaidt, Claude, ebd., S. 96.

13 Meyer, Hannes, 1930, zit. n. Schnaidt, Claude, ebd., S. 104.

14 Siehe Anm. 10.